Biberacher Geschichten
Oberschwäbisches Schilda 
Die Stadt Biberach ist bereits durch Wielands Schildbürgerroman, die „Geschichte der Abderiten“, porträtiert worden, wenigstens aber damit gemeint gewesen. Die Leute streiten sich, bilden unversöhnliche Parteien und stellen sich dabei in ihrer Borniertheit bloß. Der eigentliche Stein des Anstoßes ist der vernünftig Denkende und Weitblickende, in diesem Fall Demokrit. Er hat sich letztlich erfolglos aus dem Staub gemacht.
In den beiden Büchern

  Ein Biberacher Märchen und andere zauberhafte Geschichten und

Kunstgriffe  - den Werken des unangepaßten Schlaubergers Folg -

ist ein solcher Sachverhalt in unsere Zeit verlegt bzw. aus ihr  entwickelt worden.
In dem genannten Biberacher Märchen findet sogar - durch eine kleine Zeitreise ins 18. Jahrhundert - eine Begegnung mit ebendiesem Wieland statt, der in seiner beruflichen Notlage, die biografisch verbürgt ist, gar nicht freundlich über diese Stadt redet.
In den Kunstgriffen aber provoziert jener einfallsreiche Folg durch sein unorthodoxes Denken und Handeln die an Traditionen hängende Bürgerschaft, die ihn als Störenfried loshaben will. Statt seinen Einfällen ein bißchen „Folge“ zu leisten, drängt sie ihn ins Abseits. Natürlich ist er auch selbst daran schuld.
Der abgedruckte Ausschnitt belegt diesen Konflikt:
                             !
Man könne sein Leben auch einmal anders als aus der Kirchturmperspektive anschauen! Was hatte denn Folg anderes sagen wollen, als er den Glockenturm des Heiligen Martin zum mahnenden Phallus umformte – wobei ihm die barocke Gliederung auf schlüssige Weise entgegenkam –, was denn sonst, als daß sich auch ein auf das Andere bezogene Denken mit Lust paaren ließ oder darauf Anspruch erheben könne! Aber ebenso wie diese Aussage mißdeutet wurde, die durch richterliche Verfügung zurückgenommen werden sollte, was Folg verweigerte, so auch der Folg’sche Auftritt im städtischen Theater, der seinen Ruf obszöner Böswilligkeit festigte. Beides hat ihm die Übersiedlung ins Lusthaus der Äbte von Aulendorf – wo er seiner Lust die Zügel und seiner Unlust den Pinsel schießen lassen könne – eingetragen.

Dabei war der Vorfall im Theater nichts weiter als unerheblich (Tante Evelin meint: „Bei Licht betrachtet!“). Was hat denn Folg anderes getan, als daß er angesichts einer Vorstellung von Schillers „Räubern“ mit blauem Kittel und weit nach oben knöpfbarer Hose, und somit hochreichendem Latz, in Arbeiter- und also Räuberkleidung aus dem Dunkeln mitten unter eine festliche und prunkvoll geschmückte Abendgesellschaft getreten ist, seine Karte, die er schon vorher gelöst hatte, präsentierte und Einlaß verlangte? Obwohl man zunächst annahm, er sei Monteur, weil er doch auch einen Schraubenschlüssel bei sich hatte, und sich zunächst damit beruhigte, daß wohl im Theater eine Leitung geplatzt sei, bemerkten einige Engagierte, sehr scharfsinnig und -sichtig, daß ein Monteur, angenommen ein Rohrbruch läge vor, nicht unbedingt eine Karte lösen müsse, und alarmierten sehr beunruhigt – nachdem sie den Dunkelmann zur Rede gestellt und auch noch als Folg entlarvt hatten – die Polizei. Inzwischen drängten sehr handfeste Abonnenten, die sich im Theaterwesen auskannten, den unpassend Kostümierten, obwohl seine Karte schon angerissen war, aus der Tür und hatten sich infolgedessen seines Schraubenschlüssels, mit dem er sich selbstverständ- lich verteidigte, zu erwehren. Sicher wären mehrere auf der Strecke (bis zu Folgs Platz) geblieben, besäße die Stadt nicht eine Schule, wo junge Menschen auf solche Fälle vorbereitet und zu aufrechten – und nur in Notfällen Deckung suchenden – Scharf- schützen erzogen werden. Kein Wunder, daß sie schon zur Stelle waren, ehe Folg seinen Platz erobert haben konnte. Von ihnen gebändigt und befragt, was er denn im Theater suche, antwortete er sehr friedlich: sein Recht, und als man ihm entgegnete, da sei er ja bei der Polizei gut aufgehoben, und Anstalten machte, ihn abzuführen, widerrief er dies, indem er, daß „Die Räuber“ gespielt würden, losschrie – was man ihm verwehrte, obwohl er doch nichts Falsches sagte – und ob man nicht wisse, daß er die Rolle des Räubers Kosinsky spiele, wo denn Karl anzutreffen sei, man solle ihn loslassen, besonders auf diese gottverdammte Gesellschaft, ob sie denn ihre Polizeiehre höher schätzten als ihre und auch seine Freiheit, wozu er denn sonst einen Schrauben- schlüssel mitgebracht habe, das könne doch nicht umsonst gewesen sein, und sie sollten ihn endlich auf die Bühne lassen, sie würden’s ja gleich sehen! Aber gerade das taten sie nicht, zerrten ihn, unter den aufreizenden Zurufen des umstehenden Publikums, das seine Fräcke schützte oder die Roben raffte, aber bei dem Satz, daß jetzt genug geredet und die Vorstellung zu Ende sei, anhaltenden Beifall spendete – hinweg ins wartende Auto zum Abschminken! Aus und fertig also. Und jeder konnte es sehen: Die Besetzung war beispielhaft! Kurzum: „Die Räuber“ konnten beginnen, ja noch ehe sie losfuhren, war das Schauspiel bereits im Gang.
Ob allerdings Kosinskys Rolle im dritten Akt besetzt war oder gestrichen werden mußte, weiß Tante Evelin nicht mehr zu sagen.             

(Copyright Talfeldverlag)


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