DIE
ENTWICKLUNG DER MENSCHHEIT
Erich
Kästners Satire von 1932, die den Menschen mit seinem
tierischen Erbe konfrontiert, ist ausgefeilter, artistischer als jene von
George Grosz. Ihm geht es nicht nur um eine Straßenecke, sondern
um die ganze Menschheit. Ihre Entwicklung allerdings ist in sechs Strophen
nur als Skizze möglich. Trotzdem handelt es sich bei Kästner
um eine geschlossene Form, denn er geht vom Affen aus und kehrt am Schluß
wieder zu ihm zurück.
Das Bild von George
Grosz dagegen ist nach allen Seiten hin offen. Zur Demonstration
des "Zimmertheaters"
genügt ihm eine Haushälfte. |
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Einst haben die Kerls auf den Bäumen gehockt, behaart und
mit böser Visage.
Dann hat man sie aus dem Urwald gelockt
und die Welt asphaltiert und aufgestockt,
bis zur dreißigsten Etage.
Da saßen sie nun, den Flöhen entflohn,
in zentralgeheizten Räumen.
Da sitzt sie nun am Telefon.
Und es herrscht noch genau derselbe Ton
wie seinerzeit auf den Bäumen.
Sie hören weit. Sie sehen fern.
Sie sind mit dem Weltall in Fühlung.
Sie putzen die Zähne.Sie atmen modern.
Die Erde ist ein gebildeter Stern
mit sehr viel Wasserspülung.
Sie schießen die Briefschaften durch ein Rohr.
Sie jagen und züchten Mikroben.
Sie versehen die Natur mit allem Komfort.
Sie fliegen steil in den Himmel empor
und bleiben zwei Wochen oben.
Was ihre Verdauung übrig läßt,
das verarbeiten sie zu Watte.
Sie spalten Atome. Sie heilen Inzest.
Sie stellen durch Stiluntersuchungen fest,
daß Cäsar Plattfüße hatte.
So haben sie mit dem Kopf und dem Mund
den Fortschritt der Menschheit geschaffen.
Doch davon mal abgesehen und
bei Lichte betrachtet sind sie im Grund
noch immer die alten Affen.
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Was ist das für eine Entwicklung?
Die aus dem Urwald gelockten „Kerls“ sitzen nun sozusagen auf höheren
Bäumen in einem neuen Dschungel mit allerlei technischem Zubehör
und gebärden sich fortschrittlich. Worin besteht aber dieser Fortschritt?
In zivilisatorischen Errungenschaften, die mit dem Kopf
und dem Mund erzielt wurden! Doch was
fängt man eigentlich mit ihnen an, worin besteht der Sinn der Forschung?
Herz, Moral und Kultur kommen in Kästners Panoptikum nicht vor. Die
naturwissenschaftliche, technische Machbarkeit steht ganz im Vordergrund.
Kästner beschreibt ein Kollektiv,
er sieht keine Einzelpersonen. Ob er sich wohl selbst dazurechnet?
Er ist eher ein Beobachter, der die „Verrückten“ von außerhalb
her attackiert – als irgendwelche „sie“. Auffällig ist diese Pronomenhäufung,
fährt man mit den Augen vorn am Gedicht herunter. Woher kommt das?
Kästner macht einfach eine Aufzählung, indem er Hauptsätze
unverbunden aneinanderreiht. Sie sind so unverbunden wie die Tätigkeiten
der Menschen, wirken zugleich kurzatmig und verleihen dieser Entwicklung
Tempo.
Der Witz dieser Aufzählung
liegt jedoch in nicht eingelöster Erwartung. Welche Erwartung verknüpft
sich mit einer Zeile wie „Sie sind mit dem Weltall in Fühlung“? Sicher
nicht die, daß man „die Zähne putzt“. Und inwiefern ist deshalb
„die Erde ein gebildeter Stern“? Die „Wasserspülung“ im Anschluß
daran spült auch jegliche Ernsthaftigkeit dieser Behauptung weg. Ja,
„sie fliegen auch steil in den Himmel empor“ – und wozu? Welche Großtat
schließt sich nun an? Nichts als ein Obensein, sie „bleiben zwei
Wochen oben“. Das ist alles. Überdeutlich ist dieses satirische Verfahren
in der fünften Strophe: „Sie stellen durch Stiluntersuchungen fest“
– ja was denn Großes? –, „daß Cäsar Plattfüße
hatte“!
Der Spaß
an Kästners Gedicht rührt wesentlich von seiner poetischen Form
her, von ihrer tänzerischen Leichtigkeit und auch dem Klang. Ja, da
ist Musik drin! Dies zeigt schon die Eröffnung, das Wechselspiel der
Alliteration: „Einst haben
die Kerls auf den
Bäumen gehockt,
behaart und mit böser
Visage“. Wobei man sich natürlich auch fragen kann, warum diese eigentlich
„böse“ ist. Des Klangs wegen?
H. Löffel
Ein Biberacher
Märchen und andere zauberhafte Geschichten
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