2. Leseprobe

Der listige Lazarus. Annäherungen an 
Heinrich Heine. Stück in 12 Bildern. 
1. Auflage 1996 / 2. Auflage 2002
ISBN 3-9800141-3-4 / 1. Auflage, E. 7,50
/ 2. Auflage: Hardcover, E. 10,50
ISBN 5-9208-0197-2: Russische Ausgabe, E. 7,50

 

DIE DEUTSCHE AUSGABE

Die 12 Fenster, durch die man gleichsam
ins Buch hineinsieht, sind auch Symbole für "Ausblicke",
die Heine von seinem Matratzenlager aus haben konnte.
 
 

DIE RUSSISCHE AUSGABE

im Verlag IMLI RAN, Moskau 2004



                                                              Übersetzt von  Tamara Kudrjawzewa
  
Tamara  Kudrjawzewa ist Literaturwissenschaftlerin am Institut für Weltliteratur der Russischen Akademie der Wissenschaften (= IMLI  RAN). Sie hat neuerdings ein Buch über die deutsche Lyrik seit den 90iger Jahren herausgegeben: Die neueste deutsche Lyrik, Hauptendenzen und Entwicklungen. Außerdem ist sie Übersetzerin und hat zum ersten Mal den Phantasus von Arno Holz ins Russische übertragen. Hier ein Beispiel daraus:  http://www.fulgura.de/extern/holz/phantasus-russisch.html

 

Der Anfang des Schauspiels

Rollen

Heinrich Heine
Mathilde, seine Frau
Heines Sekretär
Madeleine, eine Helferin
Mulattin, eine Helferin
Catherine, eine Pflegerin
Der Papagei Cocotte

Julius Campe, Heines Verleger
Der Alte
Die Concierge
M. Arnaut
Die Mouche, Heines letzte Liebe
Vier Handwerksburschen aus Köln

In Einblendungen:
Der junge Heine, genannt Harry
Einige Schulmädchen
Fräulein Hindermanns, Heines Lehrerin
Weckerlin, ein angeblicher Handwerksbursche

Zeit: 1851 und 1855
Ort: Heines Wohnungen in der rue d’Amsterdam
und in der avenue Matignon – Paris


1. Bild

1851, im Juli. In der rue d'Amsterdam 50, Paris. Eine kleinbürgerlich eingerichtete Wohndiele mit mehreren Türen, zugleich Vorgemach zu Heines Matratzengruft. Zu sehen sind u.a. ein breiter Wandspiegel, eine Uhr im Porzellangehäuse, mehrere Vasen mit künstlichen Sträußen, auch ein Ölbild der noch schlanken Mathilde Heine. Jemand übt in der Nähe Klavier: Czerny und anderes. Eine adrette junge Frau mustert Bilder an der Wand und horcht auf das immer wieder aufflackernde Jammern im Nebenzimmer.

SEKRETÄR öffnet rasch die Tür: (sächselnd) Frau Heine, man muß einen Einlauf machen! Frau Heine, die Spritze! Zur Dame in der Diele: Ja, ist sie immer noch nicht da? Natürlich hält sie sich wieder zwanzig Kleider an den Leib! Aber ihr Mann hält's nicht mehr aus! Er durchquert den Raum und kommt mit dem Gerät und einem gefüllten Gefäß zurück: Können Sie behilflich sein?
MADELEINE (mit leicht elsässischem Akzent): Man hat mir nicht gesagt, daß ich gleich anfangen soll.
SEKRETÄR: Wenn Sie wissen wollen, was Sie erwartet! Ziehen Sie ihm christlich ein bißchen die Backen auseinander, er kann's nicht mehr selbst.
MADELEINE: Ich soll nachts bei ihm wachen.
SEKRETÄR: Und ich ihm vorlesen!

Er geht zurück, bittet sie wortlos mit dem Kopf, wenigstens die Tür zu öffnen, und dankt ihr mit einer Grimasse.
Sie schminkt sich vor dem Wandspiegel nach. Wieder das Jammern und Stöhnen von innen. Manchmal auch ein Satz: „So ist es nichts!“

Mathilde Heine tritt ein. Sie ist Mitte dreißig, relativ groß und schon dick, hat braunes, mittelgescheiteltes Haar, das ihr Gesicht einrahmt. Trotz ihrer Korpulenz trägt sie ein kurzes Röckchen. Konventionen kennt sie nicht. Sie ist taktlos direkt bis vulgär, aber gutherzig. Ihr Deutsch ist fehlerhaft und klingt sehr französisch.

MATHILDE: Mon Dieu, quelle torture! Sie stellt einen vollen Korb ab. (H)ätt ich gewußt, daß jemand kommt – so früh kommt, ich meine, setzen Sie sich doch, oder besser, Sie setzen sich nicht und kommen erst nachmittags, wenn seine Migräne weggegangen ist und später Herr Campe. Er hat sich angesagt. Seit Jahren das erste Mal ... Champagner, Pastetchen, Torte, die hab ich nun stehenlassen! Sie wühlt im Korb danach, zieht statt dessen ein schmuckes Spitzentuch heraus und legt es sich vor dem Spiegel um den Kopf. Oh merde, nun steht sie eingepackt im Laden! – Und wie steht so was?
Kommen Sie auch aus (H)ambourg?
MADELEINE: Nein, Ich wollte mich wegen der Nachtwache vorstellen.
MATHILDE: Ach, Sie sind die garde-malade! Und ich dachte schon – eine seiner Musen. Je häßlicher und kleiner er wird, ça alors, bald ein gewickeltes Kind, um so mehr ... Ich weiß nicht, was sie alle an ihm finden! Dabei kann man ihn auf den Arm nehmen.
MADELEINE: Vielleicht deswegen!
MATHILDE: So, Sie auch? Und wie soll er das ertragen? Ihr lautes Parfum, die nackten Arme, diesen Spitzbusen? Warum schnüren Sie sich so? Wollen Sie bei ihm wachen oder schlafen? Nein, in diesem Charme wird es nicht gehen, nicht mit diesem Rouge!
MADELEINE: Ich habe natürlich auch – Arbeitskleidung.
MATHILDE: Einen weißen Mantel und auch eine coiffe – wie sagt man – Haube? Und die Locken werden Sie abschneiden müssen! Alles gut bedeckt! Am liebsten wäre mir ein Mann. Aber will er einen? Können Sie sich nicht das Gesicht etwas schwärzen?
MADELEINE: Das steht nicht in Ihrer Annonce!
MATHILDE: Die letzte war wenigstens schwarz im Gesicht.
MADELEINE: Dann nehmen Sie die! Sie gibt vor zu gehen.
MATHILDE: Warten Sie! Dafür sprechen Sie Deutsch. Viel besser als ich! Tag und Nacht soll man ihm vorlesen! Mon Dieu! Goethe oder diesen (H)egel. Wie soll er gesund werden mit solchen Gedanken? Können Sie auch lesen?
MADELEINE: Nur Deutsch.
MATHILDE: Von (H)ambourg sind Sie aber nicht!
MADELEINE: Nein, aus Straßburg.
MATHILDE: Und warum?
MADELEINE: Ich helfe in einer Küche.
MATHILDE: Dann können Sie auch für uns kochen? Ich meine für sechs Uhr Abend?
MADELEINE: Und die Nachtwache?
MATHILDE: Das ist nicht so schlimm. Sie können daneben in der Kammer etwas schlafen, und wenn Sie mein Mann ruft, dann helfen Sie ihm. Man muß das Bett überziehen oder nur glätten. Er spürt jede Falte! Vielleicht ihn auch etwas stützen beim Umdrehn. Oder Schmerzmittel geben. Ganz leichte Arbeit! Ein bißchen schwierig ist das Kochen. Er ißt gern und gut, falls es nicht hart ist. Sie holt Apfelsinen aus dem Korb: so etwas oder auch eine Feige. Man muß etwas Weiches kochen, und es soll schmecken. Wie soll das aber gehen, wenn er nicht mehr richtig kaut? Können Sie ein solches Fleisch – sie holt es heraus und zeigt es – zu Mus kochen? Wenn Sie's können: Die Köchin ist ihm wichtiger als die eigene Frau! Erst der Arzt, dann die Köchin, dann die Frau. So ist das!

Die Tür zur Matratzengruft wird geöffnet. Der Sekretär trägt Heine auf dem Rücken. Heine ist mager und klein. Die Lider sind gelähmt. Um mit dem rechten Auge etwas zu sehen, muß er den Kopf sehr hoch recken oder ein Lid mit dem Finger hochschieben. Er trägt einen grauen Vollbart, sein noch fast braunes Kopfhaar ist verwildert.

MATHILDE: Mais le voilà! Mon pauvre malade, comment vas-tu? – Heine winkt ab und läßt sich wie ein Sack transportieren.
SEKRETÄR: Er muß sich etwas waschen.
MATHILDE: Ja dann bringen Sie ihn hin!
SEKRETÄR: Nu, Frau Heine, bin ich dafür zuständig?
HEINE in gutem hannoveranischen Deutsch: Wie nicht? Er schreibt mich ins reine!
MATHILDE: Sie sind ein kräftiger Mensch und sehr gut bezahlt!
SEKRETÄR brummelnd: Da müssen Sie sich eben jemand anderen nehmen. Er verschwindet mit Heine.
 

(Copyright Talfeldverlag)
Zusammenfassung der Handlung
 
Das Bühnenstück Der listige Lazarus ist einerseits eine Würdigung Heines, der 1997 seinen zweihundertsten Geburtstag gehabt hätte, andererseits die existentielle Darstellung eines überzeitlichen, somit auch aktuellen Schicksals. Es geht um Leidensbewältigung – in erträglicher, das heißt aristophanischer Form.

Im ersten Teil – er spielt 1851 in Paris – erleben wir Heine, bereits gelähmt, auf seinem Matratzenberg als jammernden Lazarus. Er übertreibt seine Pein. Allerdings setzen ihm auch die Umstehenden erheblich zu: seine lebenslustige, launische Frau Mathilde, der nervende Papagei Cocotte und nicht zuletzt der Verleger Campe, der dem Dichter seine letzthin entstandenen Zeilen – „versifizierte Blutstropfen“, wie dieser sagt – preisgünstig abluchsen möchte und noch mit dem Schwerkranken einen durchaus ausbeuterischen Handel treibt. Der Fuchs stößt dabei auf einen nicht weniger listigen Partner.

Im zweiten Teil des Stücks – er spielt 1855 – ist der körperliche Verfall Heines bedenklich fortgeschritten, nicht so sein geistiger. Nach wie vor ist er auf der Höhe seiner Schöpferkraft. Doch er muß sie auch dazu benützen, die zunehmende Einsamkeit auszufüllen. So erinnert oder erfindet er Szenen zu seiner Unterhaltung und läßt seine Phantasie soufflieren. Aus dem jammernden Lazarus ist nun ein tapferer geworden, der das Leiden herunterspielt. Sein einziger ständiger Dialogpartner ist der Papagei, und die Auseinandersetzung mit ihm wird letztlich dramatisch, anders gesagt: handgreiflich. Vier Wanderburschen aus Köln, die Heine Mendelssohn’sche Vertonungen seiner Gedichte vorsingen, lassen die familiäre Katastrophe auf heiter-absurde Weise ausklingen.

Das Stück respektiert den historischen Rahmen und versucht auch durch Heinezitate oder biografisch bezeugte Sätze den Originalton zu treffen. Trotzdem bleibt es eine persönliche Annäherung an Heine – ein bewußt subjektiver Entwurf!
 
 

weiter zur 3. Leseprobe

E-Mail an den Verlag

zur Navigation